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1,5 Grad sind übertroffen – ist das 1,5-Grad-Ziel verfehlt?

Berlin (dpa) – Das laufende Jahr wird so gut wie sicher das wärmste seit Beginn der Industrialisierung. Erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen wird die global gemittelte Temperatur praktisch sicher mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen, wie der EU-Klimawandeldienst Copernicus mitteilte. Ist das allgegenwärtige Ziel der Pariser Klimakonferenz, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, nun verfehlt?

Nein. «Die 1,5-Grad-Grenze ist überschritten» – eine solche Aussage zur Klimakrise könnten Experten nach den derzeit geltenden Kriterien erst viele Jahre verspätet treffen: Forscher und der Weltklimarat betrachten dazu die durchschnittliche Temperatur von 20 Jahren im Vergleich zum Zeitraum 1850 bis 1900. Wenn die Temperatur im Durchschnitt dieser Jahre um 1,5 Grad erhöht war, bestimmen sie das mittlere Jahr als Grenzjahr. Das geht daher erst 10 Jahre rückwirkend. 

1,5-Grad-Ziel um 2030 herum verfehlt

«Wenn wir um 2030 die 1,5-Grad-Marke reißen, heißt das, dass die Jahre von 2021 bis 2040 im Durchschnitt über der 1,5-Grad-Marke liegen», erklärt Nico Wunderling vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Der Weltklimarat geht in seinem jüngsten Report grob davon aus, dass eine Erwärmung von 1,5 Grad nach dieser Definition 2030 oder in den Jahren um 2030 herum erreicht wird. 

Für eine Erwärmung von einem Grad gibt es bereits eine Berechnung: «Messungen von 2002 bis 2021 zeigen, dass die Erwärmung 2011 erstmals ein Grad überschritten hat», berichtete ein Team um Richard Betts vom britischen Wetterdienst Met Office und der Universität Exeter im vergangenen Jahr im Magazin «Nature». 

Suche nach alternativen Maßstäben

Ansätze, die Messzeit von 20 auf 10 Jahre zu verkürzen, seien nicht sehr hilfreich, weil dann immer noch fünf Jahre gewartet werden müsse, hieß es in dem Beitrag. «Das ist immer noch eine lange Zeit, in der dringend gehandelt werden muss.» Eine weitere Verkürzung des durchschnittlichen Zeitraums sei allerdings ebenfalls nicht sinnvoll, weil dann die natürliche Variabilität der Temperatur dominiere.

Die Weltwetterorganisation prüft derzeit alternative Berechnungsansätze. Sie betont in ihrem Bericht zum Zustand des Weltklimas 2024 zudem: «Letztendlich ist es wichtig zu erkennen, dass (…) jeder Bruchteil eines Grades der Erwärmung bedeutend ist. Egal, ob die Erwärmung unter oder über 1,5 Grad Celsius liegt, jede zusätzliche Erwärmung führt zu Veränderungen bei Extremen und Risiken, die rasch zunehmen.» 

Im Jahr 2015 vereinbarte Werte

Auf der Weltklimakonferenz 2015 in Paris hatten die Staaten weltweit vereinbart, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad, «da dies die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen erheblich verringern würde». Die Werte haben eine hohe Symbolkraft. Eine formell vereinbarte Definition enthält die Pariser Erklärung aber nicht, wie Klimawissenschaftler Mojib Latif erklärt.

Es sei auch in der Politik Konsens, von einem Überschreiten auszugehen, wenn die mittlere Jahrestemperatur zweier Jahrzehnte über dem Wert lag. Sinnvoll sei so eine lange Zeitspanne nicht. «Das ist nur ein schönes Hintertürchen für die Politik, erst mal weiter abwarten zu können.»

Das Klimasystem ist nachtragend

Beim Klima habe man es mit einem trägen System zu tun, betont Latif, Seniorprofessor am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Der Trend zu immer höheren Temperaturen würde auch im extrem unwahrscheinlichen Fall eines beendeten Treibhausgas-Ausstoßes noch jahrzehntelang anhalten. Es sei absolut klar, dass die Erderwärmung weiter zunehmen werde – für eine Bestätigung müsse man keine 20 Jahre warten. 

Der Kohlendioxid-Ausstoß durch Kohle, Öl und Gas stieg 2024 nach Angaben des Global Carbon Project um 0,8 Prozent und an dem Report beteiligte Forscher sehen keine Anzeichen dafür, dass die Welt den Höhepunkt der Emissionen erreicht hat. 

«Wir werden auch die 2 Grad reißen» 

Die Gruppe um Richard Betts hatte im Fachblatt «Nature» vorgeschlagen, den Stand der globalen Erwärmung aus Beobachtungsdaten der vergangenen zehn Jahre sowie Modellprojektionen für die kommenden zehn Jahre zu berechnen. Dadurch sei sichergestellt, dass weiter auf einen langfristigen Durchschnittswert geschaut werde – das Überschreiten der 1,5-Grad-Schwelle könne aber früher bekanntgegeben werden und eine Verschärfung von Maßnahmen einleiten. 

Mit der vorgeschlagenen Methode berechneten die Forscher, dass die globale Erderwärmung Ende 2022 bei etwa 1,26 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau lag. Die meisten Klimawissenschaftler gehen längst davon aus, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu halten ist und es auch für das 2-Grad-Ziel eng wird. Latif sagt: «Wir werden die 1,5 Grad reißen, wir werden auch die 2 Grad reißen.» 

Beschleunigte Erwärmung?

Aktuelle Studienergebnisse stützen solche Annahmen. Ein Team um Helge Gößling von Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven erläuterte kürzlich im Fachjournal «Science», dass es zuletzt ungewöhnlich hohe Werte für die aufgenommene Sonneneinstrahlung gab. Ein Grund dafür sei, dass weniger reflektierende Wolken in geringer Höhe existierten. Für das vergangene Jahr zeigten Satellitenaufzeichnungen demnach den niedrigsten Wert für niedrige Wolken seit dem Jahr 2000 an.

Derzeit ist den Wissenschaftlern zufolge nicht klar, was zur Verringerung der niedrigen Wolken führt. Womöglich könnte der Klimawandel selbst erheblich dazu beitragen, hieß es. In diesem Fall sei mit einer stärkeren zukünftigen Erwärmung zu rechnen als bisher angenommen. 

Klima bringt Katastrophen

Das Jahr 2024 war auch in Deutschland das wärmste seit flächendeckendem Messbeginn im Jahr 1881, wie der Deutsche Wetterdienst (DWD) mitteilte. «Die Folgen der sich weiter verstärkenden Erderwärmung treffen uns mit häufigeren und intensiveren Wetterextremen», sagt Tobias Fuchs, DWD-Vorstand Klima und Umwelt.

Im Oktober fiel in der spanischen Region um Valencia an einem Tag so viel Regen wie sonst in einem ganzen Jahr nicht, etwa 230 Menschen kamen ums Leben. Im September war von Rekordregenmengen eine ungewöhnlich große Region von Polen, Tschechien, Österreich über weitere Länder betroffen.

Wäre es ohne Klimawandel ähnlich schlimm? Das fragen sich Menschen inzwischen bei jedem Extremwetter-Ereignis. In mehreren Analysen zeigten Forscher in diesem Jahr: Ohne Klimawandel wären solche verheerenden Hochwasser in Mitteleuropa deutlich seltener.

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