Hull (dpa) – Als sich die dichten Rauchschwaden über den riesigen Schiffswracks vor der englischen Nordseeküste verzogen hatten, wurden die Schäden sichtbar: An der Backbordseite des Öltankers «Stena Immaculate» klaffte ein riesiges Loch. Gas und Flüssigkeiten schienen an verschiedenen Stellen auszutreten, wie auf Luftaufnahmen der BBC einen Tag nach dem Zusammenstoß mit dem Frachter «Solong» zu sehen war.
Der Brand auf dem Tanker sei wohl gelöscht, sagte der zuständige britische Unterstaatssekretär Mike Kane bei einer Erklärung am Nachmittag im Parlament in London. Der Frachter stehe hingegen noch immer in Flammen und treibe führerlos in Richtung Süden. Auf Luftaufnahmen der BBC war zu sehen, dass er weitgehend ausgebrannt war. Zeitweise wurde befürchtet, er könne sinken oder auf Grund laufen.
Am Abend gab es hierzu Entwarnung: Das Verkehrsministerium teilte mit, dass beide Schiffe nach vorläufigen Einschätzungen voraussichtlich nicht sinken werden. Der Frachter «Solong» könne vertäut und von der Küste weggeschleppt werden, sagte Ministerin Heidi Alexander. Bergungsarbeiten könnten aufgenommen werden. Obwohl der Frachter weiterhin brenne, sei ein Schlepptau angebracht worden.
Risiko von Umweltschäden reduziert
Befürchtet worden war, dass Schiffsdiesel austreten und die Küste verpesten könnte, sollte das Schiff sinken oder auf Grund laufen. Dieses Risiko sei nun reduziert worden, hieß es in der Mitteilung des Verkehrsministeriums. Die in Hamburg ansässige Reederei Ernst Russ, der das Schiff gehört, hatte zuvor Berichte dementiert, wonach es mehrere Behälter mit giftigem Natriumcyanid geladen hatte. Die Container seien leer gewesen.
Ungewiss war aber, wie viel der 220.000 Barrel (knapp 35 Millionen Liter) Flugzeugtreibstoff, die an Bord der «Stena Immaculate» waren, ins Meer gelangt sein könnten. Der Treibstoff war den Angaben des US-Schifffahrtsunternehmens Crowley zufolge auf 16 Tanks verteilt, von denen mindestens einer bei dem Zusammenstoß beschädigt wurde.
Festnahme wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung
Insgesamt 36 Besatzungsmitglieder des Öltankers und des Containerschiffs waren sicher an Land gebracht worden, ein Mensch wurde medizinisch behandelt. Eine traurige Gewissheit gab es jedoch: Die Hoffnung, dass ein vermisster Seemann gerettet werden könnte, wurde aufgegeben und die Suche am späten Montagabend eingestellt. Kane bestätigte, dass vom Tod des Besatzungsmitglieds der «Solong» ausgegangen werde.
Wenig später teilte die Polizei mit, sie habe strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet und einen 59-Jährigen wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung festgenommen. Weitere Angaben machte die Polizei zunächst nicht.
Gründe für Unglück weiterhin unklar
Warum die beiden Schiffe zusammenstießen, war auch einen Tag nach dem Unglück weiter unklar. Der unter US-Flagge fahrende Tanker war nach Angaben von Crowley von der unter portugiesischer Flagge fahrenden «Solong» gerammt worden, als er vor Anker lag. Die Untersuchungen liegen federführend bei den Flaggenstaaten.
Besatzungsmitglieder der «Stena Immaculate» berichteten dem US-Sender CBS, unmittelbar nach dem Zusammenstoß sei ein Feuer ausgebrochen. Die Mannschaft habe erst versucht, den Brand zu löschen, und dann beschlossen, das Schiff zu verlassen. Die Flammen seien den Seeleuten dabei so nah gekommen, dass manchen die Haare versengt wurden.
Hinweise für eine absichtliche Herbeiführung des Unglücks lägen nicht vor, betonte Kane. «Es gibt im Moment keine Hinweise darauf», sagte er.
Tanker liegt laut Experten stabil
Das niederländische Bergungsunternehmen Boskalis ist mit der Bergung der «Stena Immaculate» beauftragt worden. Vier Schiffe seien auf dem Weg zur Unglücksstelle, sagte ein Sprecher von Boskalis der Deutschen Presse-Agentur.
Die Gefahr, dass der Tanker auseinanderbreche, sei klein. Beide Schiffe seien nicht länger ineinander verkeilt. Die Experten werden den Angaben zufolge zunächst den Tanker von außen kühlen. «Wir müssen erst kühlen und dafür sorgen, dass die Temperatur auf dem Schiff sinkt.» Geplant sei, den Tanker in einen sicheren Hafen zu schleppen.
Deutsches Schiff zur Unterstützung entsandt
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace in Großbritannien äußerte sich besorgt. «Sowohl die hohe Geschwindigkeit als auch die Videos von den Folgen geben Anlass zu großer Sorge», sagte ein Sprecher am Montag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Es sei aber noch zu früh, das Ausmaß von Schäden für die Umwelt zu bestimmen, sagte der Sprecher weiter.
Auch das deutsche Havariekommando entsandte ein Mehrzweckschiff zur Unterstützung. Die «Mellum» der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes traf am späten Vormittag ein. Sie sei unter anderem mit Technik zur Brandbekämpfung sowie zur Aufnahme von Öl ausgerüstet. Rund 20 Menschen seien an Bord, hieß es vom Havariekommando.
Zudem wurde ein Flugzeug vom Typ DO 228 ausgesandt. Die Bundeswehr bezeichnet es als «Öljäger», weil es mit leistungsstarken Kameras und Sensoren dabei helfen könne, Schadstoffe im Wasser zu finden. Sowohl die Besatzung der «Mellum» als auch die des Flugzeugs erhielten ihre Aufträge vor Ort von der britischen Küstenwache, hieß es weiter.
Allianz: Britische Gewässer weltweit die gefährlichsten
Die britischen Inseln sind nach einer Auswertung der Allianz von den weltweit unfallträchtigsten Gewässern umgeben: In den zehn Jahren bis 2023 kam es dort zu 5.279 Unfällen mit Schiffen von über 100 Bruttoregistertonnen – nahezu ein Fünftel der 28.000 in diesem Zeitraum weltweit gemeldeten Vorfälle. Das berichtete der zu dem Münchner Dax-Konzern gehörende Unternehmensversicherer Allianz Commercial.