Börfink (dpa/lrs) – Der Fichtenwald ist tot, aber von unten wächst es sattgrün nach. Junge Buchen, Himbeeren, Vogelbeeren und Birken breiten sich flächig zwischen abgestorbenen grauen Stämmen aus, die kreuz und quer am Boden liegen. «Hier entsteht ein neuer Wald», sagt der Leiter des Nationalparkamts Hunsrück-Hochwald, Harald Egidi, auf einem Areal mitten im Park. «Es ist unglaublich, wie die Vegetation anspringt.»
Szenenwechsel. An einer Kreuzung ist kein Durchkommen mehr. Wege sind zugewachsen, Äste und Baumstämme versperren sogar den Blick ins wilde Grün. Ganz klar: In weiten Teilen im Nationalpark hat die Natur längst die Regie übernommen. «Das ist nicht unser Verdienst. Das ist einfach die Dynamik», sagt Förster Egidi. Jetzt wird der Nationalpark zehn Jahre alt – und er sorgt immer wieder für Überraschungen.
Ende 2025 schon mehr als 60 Prozent wild
So beim Thema Wildnis. Als der Park im Mai 2015 eröffnet wurde, lag der Wildnisbereich des 10.000 Hektar großen Geländes bei 25 Prozent. Erklärtes Ziel war damals, im Jahr 2045 dann 75 Prozent wilde Natur zu haben. Denn das Dschungel-Gefühl im Hunsrück ist gewollt: Im Nationalpark wird der Natur freien Lauf gelassen – um zu sehen, wie Pflanzen und Tiere sich entwickeln.
Nun ist aber alles viel schneller wild: «Ich gehe davon aus, dass wir das Ziel in der Hälfte der Zeit, also schon bis 2030, erreichen», sagt der Chef des Nationalparks. Ende dieses Jahres werde der Wildnisbereich wohl bei über 60 Prozent liegen. Der Nationalpark liegt zu 90 Prozent in Rheinland-Pfalz und zu 10 Prozent im Saarland.
Ein Grund für den Turbo sind der Trockenstress und der Befall des Borkenkäfers in den vergangenen Jahren. Der Schädling vernichtet vor allem Fichten. Auch im Nationalpark: Von anfangs 3.000 Hektar Fichtenwäldern sind nur noch 1.000 Hektar übrig. Die Fichte ist kein heimischer Baum. Sie wurde ab dem 18. Jahrhundert und vor allem im 19. Jahrhundert dort stark angebaut.
Die Beobachtung der im Nationalpark quasi ungesteuerten Prozesse der Natur sei sehr wertvoll, sei es zu Windwurf oder Borkenkäfern, sagt Umweltministerin Katrin Eder (Grüne). Es könne viel darüber gelernt werden, wie sich früherer Wirtschaftswald entwickele, wenn er eben aus der Bewirtschaftung genommen werde. «Er ist ein Entwicklungsnationalpark», sagt sie.
Wildnis zieht neue Lebewesen an
Urwälder in Deutschland seien die Buchenwälder gewesen, sagt Egidi. Auch im Nationalpark gibt es über 200 Jahre alten Buchen – und diese Baumart ist heute eindeutig auf dem Vormarsch. Hellgrüne Buchen sind großflächig bereits im Nationalpark zu sehen. «Sie haben ganz natürlich die Oberhand übernommen», sagt der 63-Jährige.
Anfangs habe man noch geplant und überlegt, wie man den Umbruch im Nationalpark gestalten solle. Das tue man schon lange nicht mehr. «Die Natur ist stärker.» Jetzt gehe es um Forschung und Monitoring. Denn mit der neuen Vegetation, darunter auch Pionierbäume wie Aspe, Birke und Eberesche, verändere sich die Tierwelt – die biologische Vielfalt wachse.
«Mittlerweile kommen Vögel wieder vor, die sonst an offene Strukturen gebunden sind – wie der Wendehals», sagt Egidi. Bestände vom Schwarzspecht und vom Schwarzstorch haben bessere Lebensräume. Und bei der Wildkatze, die im Hunsrück heimisch ist, sei in den nächsten Jahren eine weitere Erhebung mit Haaranalyse geplant. Anfangs habe man rund 100 Exemplare ausgemacht. Man gehe davon aus, dass sich die Bedingungen für das scheue Tier weiter verbessert hätten.
Viele Forschungsprojekte laufen
Ein Fotofallen-Monitoring laufe derzeit, um sich ein Bild von den anderen Wildtieren wie Fuchs, Hirsch, Reh und Wildschwein zu machen. Auch für das mögliche Auftauchen des Wolfs stehen extra ein paar der 70 Fotofallen an langen Wegen, die dieser lieber nehmen könnte, um Strecke zu machen.
Im Nationalpark hat es bisher zwei Wolfsnachweise gegeben: im Mai 2021 und im Mai 2023. Der zweite Nachweis war von einem Wolf, der nun im Bereich Zerf lebe und mit einer Wölfin Nachwuchs bekommen habe, sagte Egidi. Das wisse man, weil vor wenigen Monaten ein Wolfswelpe überfahren wurde und dieser genetisch den Elterntieren zugeordnet werden konnte.
«Und wenn die jetzt Nachwuchs haben, muss man nicht unbedingt Prophet sein, um zu sagen, sie werden sich wahrscheinlich auch noch mal in Richtung Nationalpark ausdehnen.» Der Aktionsradius der Wölfe und der große ungestörte Lebensraum ließen das erwarten. Auf dem Vormarsch sei auch der Biber. «Er kommt vom Saarland von Otzenhausen über Neuhütten in Richtung Züsch rüber.»
Nationalpark als «großes Reallabor»
Es gebe wohl noch viel in der «Schatzkammer Nationalpark» zu entdecken, meinen auch die Wissenschaftler Eberhard Fischer und Dorothee Killmann von der Universität Koblenz. Sie sind seit Jahren im Schutzgebiet mit Arbeiten unterwegs. Mit Kollegen haben sie bereits eine neue Rotalge und eine neue Flechte gefunden und wissenschaftlich beschrieben.
In Kooperation mit anderen Nationalparks läuft ein Aasökologie-Projekt. Dabei gehe es darum zu schauen, wie tote Tiere zersetzt werden, sagt Egidi. Mit der Uni Trier arbeite man beim Thema Fernerkundung zusammen. «Die Flächen sind ja teils nicht mehr begehbar.» Mit Satelliten und Spektralanalyse versuche man, Information zu bekommen. Man habe auch eine eigene Drohne.
«Der Nationalpark ist ein großes Reallabor», sagt Egidi. Und zwar nicht nur in den Wäldern, sondern auch in den Hangmooren, die 13 Prozent der Fläche im Park ausmachen, oder in den sogenannten Rosselhalden aus Quarzit-Blockschutt. An den Felsen sieht man Moose und Flechten wachsen, auch seltene wie die Rentierflechte. Das Monitoring über Jahrzehnte sei eine Herausforderung, sagt Egidi. «Es ist ein Generationenprojekt.»
Wilde Natur zieht Besucher an
Nach einer ersten Erhebung und qualifizierten Schätzungen zähle der Park rund 400.000 Besucher im Jahr, sagt Egidi. Es gibt drei Nationalpark-Tore, die ideale Startpunkte für Touren sind: am Erbeskopf, an der Wildenburg oder am Keltenpark. 26 Ranger bieten regelmäßig Touren an. Zudem gibt es zehn Fahrradwege zum Entdecken sowie mehrere ausgewiesene Wanderwege. Das zehnjährige Jubiläum wird an Pfingsten (7./8./9. Juni) gefeiert.
Zwei Wanderer machen an der Halde Rast. «Wir finden es großartig hier», sagt Martin aus Köln. «Der Clou hier ist das riesige Waldgebiet, was man so oft in Deutschland nicht hat.» Seine Partnerin Irmgard meint: «Und dann dieser Wechsel aus Ausblicken, naturnahen Pfaden und idyllischen Bachtälern.»