Luxemburg (dpa) – Die EU-Staaten haben den Weg für ein lange umstrittenes Naturschutzgesetz freigemacht. Demnach sollen künftig in der Europäischen Union unter anderem Wälder aufgeforstet sowie Moore und Flüsse in ihren natürlichen Zustand zurückversetzt werden. Eine ausreichende Mehrheit von EU-Staaten stimmte dem vor allem von Landwirten und Konservativen kritisierten Vorhaben in Luxemburg zu, wie die derzeitige belgische EU-Ratspräsidentschaft mitteilte.
Über das Vorhaben wurde lange und intensiv gestritten. Die EU-Kommission hatte das sogenannte Renaturierungsgesetz vor fast genau zwei Jahren vorgeschlagen. Nach offiziellen Angaben sind rund 80 Prozent der Lebensräume in der Europäischen Union in einem schlechten Zustand. Zudem sind demnach 10 Prozent der Bienen- und Schmetterlingsarten vom Aussterben bedroht und 70 Prozent der Böden in schlechter Verfassung.
Das Gesetz ist Teil des sogenannten Green Deals, mit dem sich die EU das Ziel gesetzt hat, bis 2050 klimaneutral zu werden. «Die Verordnung zielt darauf ab, den Klimawandel und die Auswirkungen von Naturkatastrophen einzudämmen» teilten die EU-Staaten mit. Nach Angaben des Umweltbundesamtes können durch Renaturierung etwa Überschwemmungsflächen zurückgewonnen und Hochwasserrisiken verringert werden.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke sprach von einem entscheidenden Schritt für eine intakte Natur in Europa. «Ich begrüße sehr, dass die EU-Mitgliedstaaten heute die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur beschlossen haben», so die Grünen-Politikerin. 20 der 27 EU-Staaten – darunter Schwergewichte wie Deutschland und Frankreich – stimmten für die neuen Vorgaben, 6 sprachen sich dagegen aus und Belgien enthielt sich.
Deutschland muss nun innerhalb von zwei Jahren einen Plan bei der EU-Kommission einreichen, welche Maßnahmen durchgeführt werden. Denkbar sind etwa Blühstreifen anzulegen, Bäume in Innenstädten zu pflanzen oder Stauwerke aus Flüssen zu entfernen.
Gesetz in Verhandlungen wegen Kritik abgeschwächt
Während Umweltschützer, zahlreiche Wissenschaftler und Unternehmen wie Ikea, H&M und Nestlé das Gesetz befürworteten, gab es großen Widerstand vor allem von Christdemokraten und Bauernverbänden. Die Kritiker befürchten zu große Einschnitte für Landwirte und damit Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion in der EU.
«Man kann uns Bauern nicht par ordre du mufti vorschreiben, wie wir zu wirtschaften haben. Das löst Widerstände aus», sagte der Präsident des Deutschen Bauernverbands Joachim Rukwied. Auch aus der FDP gibt es Kritik. Jan-Christoph Oetjen, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, sprach nach der Abstimmung von einem Schritt rückwärts. Forst- und Landwirtschaft würden neue Restriktionen auferlegt.
Um auf Bedenken einzugehen, war das Gesetz im Verhandlungsprozess deutlich abgeschwächt worden. So ist beispielsweise nicht mehr vorgesehen, dass Landwirte verpflichtet werden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Agrarflächen für Renaturierungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen.
Alleingang einer grünen Ministerin
Eigentlich hatten sich die EU-Länder und das EU-Parlament schon im November auf einen Kompromiss verständigt. Auch das EU-Parlament hatte bereits zugestimmt. Weil eine Reihe von Ländern trotzdem weiter dagegen war, stand die notwendige Mehrheit unter den ebenfalls an der Gesetzgebung beteiligten EU-Staaten lange auf der Kippe.
Diese kam nun durch einen Kurswechsel Österreichs zustande. Die Klimaschutz- und Umweltministerin der Alpenrepublik, Leonore Gewessler (Grüne), stimmte dem Gesetz zu – stellte sich damit aber gegen ihren konservativen Koalitionspartner, die Kanzlerpartei ÖVP und löste so gleichzeitig eine Regierungskrise in Wien aus. Österreichs Kanzler Karl Nehammer ist der Meinung, dass Gewesslers Vorgehen rechtswidrig sei. Das Bundeskanzleramt in Wien kündigte nach Gewesslers unabgestimmtem Ja umgehend eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof an. Gewessler hatte hingegen vor ihrem Votum betont, dass ihr Schritt juristisch abgesichert sei.
Ob das Gesetz angesichts der unterschiedlichen Rechtsauffassungen doch noch aufgehalten wird, müssen am Ende Gerichte entscheiden. Der derzeitige belgische EU-Ratsvorsitzende Alain Maron sprach mit Blick auf Österreich von einer innenpolitischen Kontroverse, «die mich nichts angeht».
Belgien hat derzeit den regelmäßig wechselnden Vorsitz unter den EU-Staaten inne. Nach Angaben eines EU-Diplomaten vertritt die Ratspräsidentschaft die Auffassung, dass die Abstimmung rechtlich bindend ist. Diese Ansicht sei auch vom juristischen Dienst des Rates bestätigt worden.
Mit der Zustimmung der EU-Staaten ist das Gesetz eigentlich beschlossen. Sollten sich keine juristischen Fallstricke mehr entwickeln, müsste der Rechtstext nur noch in die EU-Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt veröffentlicht werden, damit die Vorgaben in Kraft treten können. 2033 soll die EU-Kommission die Auswirkungen der Verordnung auf die Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft überprüfen.
Schwere Regierungskrise in Österreich
Die konservative Kanzlerpartei ÖVP kündigte in Wien eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Gewessler an. Leonore Gewessler habe sich über die Verfassung gestellt, sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Seine Partei argumentiert, dass Gewessler an einen Einspruch der österreichischen Bundesländer gegen das EU-Gesetz gebunden sei. Gewessler ist überzeugt, dass dieses Veto nicht mehr gilt, seitdem Wien zuletzt den Länder-Konsens verlassen hat und das Gesetz unterstützt.
Dies sei «ein mehr als schwerer Vertrauensbruch», sagte Kanzler Karl Nehammer. Um Österreich ein Chaos zu ersparen, werde er jedoch die Koalition nicht platzen lassen, auch wenn die Zusammenarbeit mit den Grünen «keinen Sinn mehr» habe. Nehammers Konservative stehen stark unter Druck, nachdem sie in der EU-Wahl von der rechten, EU-kritischen FPÖ auf den zweiten Platz verwiesen wurden.
Umweltverbände sprechen von historischem Tag
Der Deutsche Naturschutzring als Dachverband von knapp 100 Organisationen sprach von einem historischen Tag und einem wichtigen Signal an die ganze Welt. Die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Einhaltung von Verpflichtungen aus dem Biodiversitätsabkommen der Vereinten Nationen seien trotz einer starken rechtspopulistischen Kampagne nicht verhandelbar. Brennende und absterbende Wälder, Hochwasserereignisse, Wassernotstände und die Klimakrise zeigten, dass jetzt gehandelt werden müsse. Die Organisation Greenpeace forderte die Bundesregierung auf, den Beschluss schnell in der deutschen Gesetzgebung umzusetzen.