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Straßen und Siedlungen sorgen für Inzucht bei Rotwild

Hamburg/Flintbek (dpa) – Die Zerteilung ihrer Lebensräume durch Straßen oder Siedlungen führt bei Rothirschen und andere Tieren zunehmend zu Inzucht. «Wir wissen seit den 1990er Jahren, dass die Lebensraumzerschneidung die Rotwildpopulationen, und auch die Populationen vieler anderer Tierarten, verinselt, wodurch sie genetisch verarmen», sagt der Wildbiologe Frank Zabel vom Landesjägerverband Schleswig-Holstein im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Unter Inzucht wird die Paarung von nahe verwandten Tieren verstanden.

Die Zerteilung der Landschaften geschieht maßgeblich durch Autobahnen, Straßen, Siedlungen, die immer mehr Raum einnehmen, sowie Bahnlinien und Kanäle. So gebe es beispielsweise in der Achse Hamburg – Lübeck die A1, A20 und A21 sowie zahlreiche Bundesstraßen. «Die Achse ist für scheue Wildtiere wie das Rotwild nicht querbar», betont Zabel. Daher finde kein genetischer Austausch statt, abgesehen von sehr mutigen Tierarten wie Wolf und Schwarzwild, die auch über Straßenbrücken gehen.

Dem Jagdverband zufolge hat es in den vergangenen Jahren immer mehr dokumentierte Fälle von schweren Missbildungen durch Inzucht bei Rothirschen gegeben – so können etwa Unter- oder Oberkiefer der Tiere verkürzt, der Schädel verdreht oder die Zahnreihen versetzt sein. Dabei seien die Fälle der sichtbaren Nachteile in ganz Deutschland und Mitteleuropa zu finden, erklärte der Wildbiologe.

Die Missbildungen seien allerdings noch die Ausnahme – die genetische Verarmung durch Inzucht hingegen die Regel. Diese reduziert Zabel zufolge die Anpassungsfähigkeit der Arten an die Umwelt: «Je enger mein Genom ist an den entscheidenden Stellen, umso weniger kann ich auf Veränderungen reagieren», erklärt er. Dabei sei die Anpassungsfähigkeit in Zeiten des Klimawandels besonders wichtig.

Studie: Inzucht teilweise unausweichlich

Die genetische Vielfalt des Rotwilds in Deutschland ist einer Studie der Universität Göttingen aus dem Jahr 2022 zufolge vielerorts sehr gering. Insgesamt 34 Rotwild-Vorkommen waren damals untersucht worden. Nur zwei Bestände kamen demnach auf eine als ausreichend groß eingestufte Population von 500 oder mehr Tieren. 

Bei den weiteren Beständen seien die Zahlen so gering, dass Inzucht zwischen den Tieren trotz eines Vermeidungstriebs teilweise unausweichlich sei. Die Forscher stellten außerdem fest, dass lediglich zwölf Vorkommen ausreichend mit anderen Vorkommen vernetzt sind.

Auch Konsequenzen für andere Tierarten

Nach Ansicht des Vorstands der Deutschen Wildtier Stiftung, Klaus Hackländer, sind die Inzuchtnachweise bei Rotwild nur «die Spitze des Eisberges». «Wenn es der Hirsch nicht schafft, dann schaffen es die kleineren Tierarten natürlich erst recht nicht, weil die nicht so weite Strecken ziehen», sagte der Wildtierbiologe. 

Das heißt, es könne davon ausgegangen werden, dass es auch bei anderen Arten, die etwa entlang von Autobahnen leben müssen, negative Konsequenzen gibt. «Der Hirsch steht sozusagen stellvertretend für eine ganze Reihe von Tierarten, wie etwa den Luchs, die sich nicht mehr austauschen können», führte Hackländer aus.

Wildtierbiologe fordert neues Flächenmanagement

Um dem Problem entgegenzuwirken, plädiert der Wildtierbiologe für einen deutschlandweiten Wildwegeplan: «Wir brauchen ein Management von Flächen und Korridoren, damit die Tiere den Weg finden und sich auch auf der anderen Seite fortpflanzen können.» 

Dabei wären mindestens 100 Wildquerungshilfen über Verkehrswege hinweg – wie es auch der Deutsche Jagdverband fordert – optimal. Setze man sich nicht für solche Korridore ein, gebe es die Gefahr, dass Tierarten wie der Rothirsch auf großen Flächen Deutschlands keine Chance mehr haben, warnt Hackländer.

Zudem müssten die Jagdgesetze angepasst und Rotwildbezirke entweder, wie in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern, aufgehoben oder junge Männchen auch außerhalb der Bezirke geschont werden. Dies wäre laut Hackländer dann der Garant dafür, dass sich die Gene über die Landschaft ausbreiten können

Lebensadern der Wildtiere müssen geschützt werden

Außerdem müssten sich Rothirsche ihre Lebensräume und Wanderkorridore eigenständig erschließen dürfen, heißt es vom Deutschen Jagdverband. «Wir brauchen letztendlich eine vernetzte Landschaft», betont Wildbiologe Zabel. Dabei sei es wichtig, dass sich mit Experten, mit der Politik und anderen Naturschützern ausgetauscht wird und gemeinsam Wege gefunden werden, um die Lebensadern der Wildtiere zu schützen. 

«Denn am Ende sind wir Menschen darauf angewiesen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, dass die Systeme da draußen funktionieren», sagt Zabel. «Wenn wir nicht endlich anfangen, Rücksicht zu nehmen und die biologische Vielfalt zu schützen, dann fällt uns das auf die Füße.»

Wildwegeplan soll im Norden Koexistenz ermöglichen

Das Kieler Landwirtschaftsministerium hat die Erarbeitung eines Wildwegeplans für Schleswig-Holstein aufgenommen. Wie das Ministerium der Deutschen Presse-Agentur mitteilte, ist das Ziel, langfristige Lösungen für eine verbesserte Vernetzung der Lebensräume von Wildtieren zu schaffen. 

Dies solle eine nachhaltige und tierschutzgerechte Koexistenz von Wildtieren und menschlicher Nutzung ermöglichen. Dabei stünde nicht nur das Rotwild im Fokus des Wildwegeplans, sondern alle relevanten Wildtierarten, die von den Maßnahmen profitieren können, hieß es.