Greetsiel (dpa/lni) – Auf einen grünen Schlitten lädt Benedikt Wiggering alles, was er gleich im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer braucht: zwei Holzpfähle, einen langen Holzhammer, Kabelbinder, eine Kamera – und ein totes Reh, verpackt in einen blauen Plastiksack. «Wir haben alles», sagt der Biologe zu seinem Kollegen, dem Nationalpark-Ranger Jochen Runar. In Gummistiefeln laufen die beiden vom Auto am Deich in die Salzwiese. Den Schlitten, auf dem der Rehkadaver liegt, ziehen sie hinter sich her.
«Das Tier kommt der Wissenschaft zugute», erklärt Wiggering. Das rund 24 Kilogramm schwere Reh wurde bei einem Verkehrsunfall getötet, der Körper ist weitgehend unversehrt geblieben. Mit dem Kadaver will der Wissenschaftler untersuchen, wie viel anderes Leben dieser in der Natur anzieht. Alles, was in nächster Zeit daran knabbert, flattert und kriecht, interessiert den Forscher.
«Aas fällt dann auf, wenn sich chemisch etwas tut oder dadurch, dass andere Aasfresser da sind», sagt der Biodiversitäts-Experte der Nationalparkverwaltung. Was unappetitlich klingt, ist für die Wissenschaft von großem Nutzen.
Ziel des Forschungsprojekts ist es, herauszufinden, welche Insekten- und Pilzarten oder größeren Tiere an den Kadavern gefunden werden können – und welchen Beitrag sie zur Artenvielfalt leisten. Auch sollen Empfehlungen für den Umgang mit Aas in Schutzgebieten abgeleitet werden.
Wo die Natur streng geschützt ist
Um das Reh auszulegen, ziehen die Männer den Kadaver eine kurze Strecke auf dem Schlitten in die Salzwiese. Den Ablageplatz hat Wiggering zuvor anhand von Kartenmaterial am Computer bestimmt.
Der Ort, an dem das Aas ausgelegt wird, liegt abseits in der Leybucht. Für Unbefugte sind die Kadaver nicht zu finden. Die Wattflächen und Salzwiesen in der Leybucht, der zweitgrößten Meeresbucht Ostfrieslands, zählen zur Ruhezone des Nationalparks.
Hier sind die Pflanzen und die Tiere streng geschützt. Zutritt im Gebiet haben nur wenige. «Das ist eines der streng geschütztesten Areale am Festland», sagt Ranger Runar. «Hier darf niemand rein, auch nicht zu Fuß oder als Radfahrer.»
In der Leybucht gilt das Nationalpark-Motto «Natur Natur sein lassen»: Die Natur soll sich hier möglichst frei von menschlichen Einflüssen entwickeln können.
Kadaver als «Hotspots für Artenvielfalt»
Aas ausbringen und die ökologischen Folgen untersuchen: Was im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer erforscht wird, ist Teil eines bundesweiten Aasökologie-Forschungsprojekts. Es wird von der Universität Würzburg koordiniert und vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) gefördert. Das Projekt läuft seit 2022 und umfasst alle deutschen Nationalparks bis 2027.
Dass verrottendes Totholz in der Landschaft vielen Tieren und Insekten Lebensraum bietet, ist bekannt und gesellschaftlich akzeptiert, teilt das BfN mit. Aber welchen Wert hat tote tierische Biomasse für die Artenvielfalt?
Kadaver in der Landschaft verwesen zu lassen, sei vielfach noch nicht akzeptiert und in Schutzgebietsmanagement nicht vorgesehen. «Kadaver sind jedoch höchst nährstoffreiche Biomasseressourcen und als Hotspots der Biodiversität nicht zu unterschätzen», heißt es in einer BfN-Mitteilung. Die Wirkung auf ökologische Prozesse sei bislang nicht hinreichend untersucht.
Welche Tiere noch ausgelegt werden
Erste Untersuchungen von Wildtierkadavern im Nationalpark Bayerischer Wald ergaben, dass Aas von einer großen Spannbreite von Wirbeltieren, Insekten, Bakterien und Pilzen genutzt wird. Forscher fanden etwa 17 Wirbeltierarten sowie mehr als 90 Käfer- und 3.700 Pilzarten an Kadavern. Aas gebe viel mehr Nährstoffe frei als andere tote organische Materie wie Holz oder Blätter, teilte dazu die Nationalparkverwaltung mit.
Rehe sind in dem Projekt die Standard-Kadaver-Art. Dadurch sollen auch Vergleiche zwischen den Nationalparks möglich werden, sagt Wiggering. «Je häufiger etwas vorkommt, desto mehr Einfluss hat das Tier auch auf den Lebensraum.» Hinzu kommen, je nach Landschaft, noch weitere typische Arten – am Wattenmeer werden etwa Seehundekadaver ausgelegt. Sie stammen aus der Seehundstation Norddeich, wo manche Tiere trotz intensiver Pflege nicht erfolgreich aufgezogen werden können.
Um nachvollziehen zu können, wer sich an den toten Tieren labt und welches Leben die Kadaver beherbergen, setzen die Forscher auf verschiedene Methoden. Um Pilze und Bakterien zu finden, werden Abstriche an den Kadavern genommen und im Labor untersucht. Im Sommer werden zudem Insektenfallen an den Tieren ausgebracht und Bodenproben genommen, um zu sehen, was der Kadaver in den Boden abgibt.
Fotofalle dokumentiert das Kadaverleben
Um größere Aasfresser zu erfassen, setzen die Wissenschaftler Wildtierkameras ein. Am Ablageort schlägt Wiggering mit einem Holzhammer zwei Holzpfähle in die Salzwiese – einen für die Kamera, den anderen für den Rehkadaver.
An einem anderen Kadaver-Platz in der Leybucht hat Wiggering zuvor so eine Kamera ausgewertet. «351 neue Bilder», sagt er und klickt sich am Display durch die Aufnahmen der vergangenen Tage. Die Kamera reagiert auf Bewegungen und macht zudem jede Stunde Kontrollfotos.
Wie in einer Art Zeitraffer wird sichtbar, wie viel Leben am Kadaver war. «Das sieht nach einem Marderhund aus, gleich zwei», sagt Wiggering. Am Computer will er später prüfen, ob die Tiere am Aas gefressen haben. «Nur weil ich ein Tier am Aas auf dem Foto sehe, heißt es nicht, dass es auch daran frisst.» Manche bedienen sich nur an den Maden; andere, wie Rehe, kommen wahrscheinlich, weil es nach Artgenossen rieche – bei den Seehunden kämen sie seltener vorbei.
«Hier begegnen sich Tiere, das ist eine ganz spannende Erkenntnis, die wir immer wieder bei diesem Projekt auch beobachten», sagt Wiggering. Eine Kamera habe auch schon einen Seeadler festgehalten, der das Reh auf die Rückseite drehte. Ähnlich wie bei einem Schollenessen. «Und dann kamen die Rabenkrähen, die davon profitieren, dass der Kadaver umgedreht wurde», sagt Wiggering.
Science-Slam-Meister
Auch wenn die Kadaverforschung unappetitlich klingen mag, kann Wiggering unterhaltsam darüber erzählen. Sein Talent zeigte er zuletzt beim Science-Slam – einem Format, bei dem es darum geht, Wissenschaft verständlich und unterhaltsam zu präsentieren. Mit seinem Beitrag «Wer fraß am Aas?» wurde Wiggering «Deutscher Science-Slam-Meister 2024».
Nachdem Wiggering und Ranger Runar den neuen Rehkadaver ausgelegt haben, prüfen sie die Wildtierkamera. Für ein Testbild hockt sich der Forscher hinter das Reh und wedelt mit den Armen, um einen Greifvogel zu imitieren. Die Kamera löst aus. «In zehn Sekunden ist die Kamera scharf. Damit verlassen wir das Gebiet», sagt er zu seinem Kollegen. In ein paar Wochen werden sie nachschauen, welches Leben an dem toten Reh übriggeblieben ist.